Triste Grafik, traurige Gesichter
Natürlich hat ein Tour de France-Spiel kein Budget à la FIFA, daher rangiert die Grafik nicht im oberen Regal. Die Berge, Dörfchen und Landschaftspanoramen sind schlicht, gehen aber durchaus in Ordnung. Die Bildrate ist jederzeit flüssig, trotzdem ist es schade, dass optisch auf einer PS5 kaum mehr geboten wird als das Spiel vor drei Jahren auf PS4 ablieferte. Die generell spartanische Präsentation vom Etappenstart bis hin zur Siegerehrung trägt leider kaum zur Stimmung bei. Wie schade, zeigt doch die just erschienene Netflix-Doku „Tour de France: Im Hauptfeld“ wie modern und attraktiv man das Radrennen in Szene setzen kann. Freilich: Die Doku-Reihe ist an vielen Stellen zu unkritisch und überdramatisiert die Rennaction, gleichzeitig ist die Qualität der Bilder herausragend.
Richtig bitter sind die Modelle der Athleten im Spiel: Alle haben dasselbe Gesicht! Sicher, das fällt zu 95% der Zeit nicht auf, weilt man während der Etappen auf die Rücken der Piloten blickt. Aber schwenkt die Kamera beim Etappenstart nah an die Fahrer heran oder steigen sie nach dem Finish aufs Podium, dann blickt man als Spieler in ein Gruselkabinett eineiiger 176-Linge.
Praktisch ist die rot-grüne Hilfslinie auf dem Asphalt, die in Abhängigkeit vom eigenen Tempo zum Bremsen oder Beschleunigen animiert. Überhaupt sind die Bildschirm-Anzeigen gut strukturiert und klasse platziert. Obwohl mit Etappenprofil, Steigungsanzeige, Geschwindigkeit, Zeit-Abständen und natürlich der Energie des Fahrers wirklich viele Dinge gleichzeitig auf dem Schirm sind, hat man stets beste Übersicht. Wer die Vorgänger-Spiele nicht aus dem Effeff kennt, sollte sich zum Start 15 Minuten Zeit nehmen für die Tutorials. Danach hat man das Rüstzeug zum Radprofi intus. Wer sich für alle taktischen Finessen interessiert, der wird im Online-Handbuch fündig.
Tour de France 2023: So gewinnt man eine Etappe
Erklärungsbedarf besteht noch beim Punkt, wie man so ein virtuelles Radrennen gewinnt. Hier kommt es auf Taktik und Timing an. Radsport-Kenner wissen, dass selbst die souveränsten Tour-Sieger während einer Rundfahrt maximal drei oder vier Etappen gewinnen. Das sollte man sich auch am PC oder der Konsole hinter die Ohren schreiben. Es nützt wenig, schon Sekunden nach dem Start jeder Etappe mit beherzten Tritten einen Ausreiß-Versuch zu wagen. Stattdessen kann man sich ruhig mal zurücklehnen, im Feld mitradeln, vielleicht die Hälfte der Strecke vorspulen und darauf warten, dass das Hauptfeld die meisten Hazardeure ja doch wieder einholt. Wer einen Sprinter wählt, der fährt ebenso brav mit, um dann just zu explodieren und die Zwischensprints zu gewinnen. Genau so fährt man ins grüne Trikot.
Fahrer mit Ambitionen auf eine Platzierung in den Top-10 oder gar den Gesamtsieg können sich vielleicht mal bei den mittelschweren Misch-Etappen zeigen, doch entscheidend sind die brutalen Berg-Etappen. Dann geht es ans Eingemachte, dann wird auf den Anstiegen der ersten und der außerordentlichen Kategorie ausgesiebt, bis nur noch eine schlanke Gruppe von 10 bis 15 Athleten das Tempo an der Spitze mitgehen kann. Wer die Tour de France kennt und liebt, der hat auch an der Konsole ein geniales Gefühl, wenn er am Col d’Aspin aus dem Sattel geht oder als erster über den Tourmalet fährt. Gänsehaut pur, auch mit dem Pad in der Hand.
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Die Topfahrer der Tour de France 2023
Die besten Chancen bei solchen Etappen vorn zu fahren, haben natürlich vor allem Vingegaard, Pogacar, Hindley, Mas & Co. Doch auch mit diesen Top-Athleten muss man an Gamepad und Tastatur mit ihrer Ausdauer haushalten: Alle Fahrer verfügen über mehrere Energie-Leisten, die Gesamtausdauer und die Angriffs-Kraft symbolisieren. Die werden strapaziert, wenn man über längere Zeit ein hohes Tempo vorn im Wind fährt, wenn es bergauf geht oder man per Tastendruck noch stärker in die Pedale tritt. Lange Abfahrten und zwei Kraftgel-Packungen füllen Teile der Leiste wieder auf, doch wer schon auf der ersten Hälfte einer Etappe nah am roten Bereich ist, der kann sich den Tagessieg abschminken. Bitter wird es, wenn beide farbigen Balken leer sind. Dann erleidet der Fahrer einen Einbruch, das Bild wird schwarzweiß, die Konkurrenten rasen davon und man verliert wertvolle Zeit.
Die Spielmodi in Tour de France 2023
Wenig überraschend ist die Tour de France Femmes, also die Frankreich-Schleife der Frauen, wie im Vorjahr nicht im Spiel enthalten. Dafür reichlich andere Highlights aus dem Radsport-Kalender, z. B. Klassiker wie Lüttich-Bastogne-Lüttich oder namhafte Rundfahren wie Paris-Nizza oder das Critérium du Dauphiné. Die beiden anderen großen Landesrundfahrten – der Giro d’Italia und die Vuelta a España – sind leider nicht dabei.
Neben der erwähnten, immer nur ein paar Tage lang verfügbaren Herausforderungen gibt es zwei Karriere-Modi: In einem leitet man die Geschicke eines ganzen Teams und versucht, sich für wichtigsten Rennen zu qualifizieren. Im anderen erstellt man einen eigenen Sportler und führt diesen an die Weltspitze. Beiden Modi gemein ist die immens trockene Präsentation, zudem sind die Management-Aspekte bei weitem nicht so detailliert und fein ausgearbeitet wie in anderen Sportspielen. Etappen, die man nicht fahren will, können simuliert werden – es fehlt aber die Option, zum Beispiel im letzten Renndrittel auf Knopfdruck noch einzusteigen.
Von den offiziellen Einleitungsfilmchen bei jeder Etappe abgesehen, schafft es kaum etwas vom Tour-Drumherum ins Spiel. Wo auf der offiziellen Webseite der Tour Wissenswertes über die Orte, Statistiken aus den Vorjahren und vieles mehr zu entdecken ist, da gibt sich Cyanide keine Mühe, die ganze Faszination des berühmtesten Radrennens der Welt auch abseits der gefahrenen Etappen einzufangen.
Fazit
Der Kern stimmt, deshalb sichert sich Tour de France 2023 haarscharf die IMTEST-Note „gut“. Die Rennen sind taktisch und spannend, die Steuerung wurde spürbar verbessert und das Gros der Teams und Fahrer sind mit offiziellen Shirts und Namen an Bord. Auch die Zahl der anderen Radsport-Events abseits der Tour ist beachtlich – wer sich für den Sport interessiert, der kann verdammt viele Rennen absolvieren.
Gleichzeitig stagnieren die triste Technik und der Umfang: Cyanide liefert noch immer keinen Online-Modus mit, hat keine neuen Spielmodi verbaut und ruht sich zu sehr auf dem gut funktionierenden Gerüst der Vorjahre aus. Wer große Lust auf die virtuelle 2023er Tour hat, der kommt nicht um das neue Spiel herum – weil nur dort die aktuellen Strecken enthalten sind. Trotzdem bleibt der fade Beigeschmack, dass man eigentlich nur ein Vollpreis-Update gekauft hat.
- PRO
- Taktische Rennen, verbesserte Steuerung, spannende Abfahrts-Challenges.
- KONTRA
- Nüchterne Präsentation, zu ähnlich zum Vorjahr, nur ein Fahrergesicht.
IMTEST Ergebnis:
gut 2,5